Killerformel gegen Bürgerbeteiligung? - Essay
von Michael Hahl
Wer von einem "Sankt-Florian-Prinzip" spricht, unterstellt anderen Menschen das Bewusstsein, irgendwelchen Veränderungen zwar grundsätzlich zuzustimmen, sie aber nicht vor der eigenen Haustür zulassen zu wollen. Falls jemand tatsächlich nach dem Motto "Heiliger Sankt Florian, verschon' mein Haus, zünd' andre an ..." urteilen würde, müsste man ihm natürlich ethisch verwerfliches Handeln ankreiden, denn es wäre – wenn auch fraglos sehr „menschlich“ - gesellschaftlich nicht respektabel, einen potenziellen Schaden, um sich selbst zu schützen, anderen an den Hals zu hängen.
Aktuell scheint sich jedoch einzubürgern, mit der Wortkeule „Sankt-Florian-Prinzip“ nicht allein eine sozial bedenkliche not-in-my-backyard-Position, die auf Kosten anderer Bürger ausgelebt würde, sondern jedwede Skepsis und Kritik unmittelbar betroffener Bürger anzuprangern. Als müsse sich das Einzelinteresse kritiklos einem moralisch positiv besetzten, im Übrigen aber gar nicht näher definierten „Gemeinwohl“ unterordnen, ohne gegebenenfalls nach geeigneteren Konsenslösungen oder allgemeinverträglicheren Kompromissen zu suchen.
Mit der generalisierenden Anprangerung eines Florian-Prinzips werden gleichwohl seriöse und gänzlich unverwerfliche Interessenkonflikte innerhalb der Bürgerschaft nicht ernst genommen, sogar diskreditiert. Mitunter wird der Skeptiker auch noch mit dem Argument konfrontiert, sein politisches bürgerschaftliches Engagement mit dem Ziel, bessere Lösungen zu finden, wolle lediglich eine Gemeinwohl-Orientierung vorgeben; man unterstellt also Vortäuschung falscher Tatsachen - und bedient sich damit gleich noch eines weiteren Totschlagarguments. Schließlich wird es nicht selten der Fall sein, dass Teile der Bürgerschaft einerseits als räumlich unmittelbar betroffene Anrainer involviert und zudem in einem größeren infrastrukturellen Kontext nicht unbedingt vom Gemeinwohl einer Sache oder von deren optimal geplanter Umsetzungsstrategie überzeugt sind.
Legitime Betroffenheit der Anrainer von Großprojekten - wie Verkehrswegen, Kraftwerken, Windparks und vieles mehr - wird so aber moralisch per se in ein schlechtes Licht gestellt. Wer hier als Entscheidungsträger und Bürgervertreter nicht umsichtig handelt, riskiert leichtfertig, die Bürgerschaft in konkurrierende Lager zu spalten, Gewinner und Verlierer zu erzeugen, statt in einem transparenten Prozess nach einer Lösung zu suchen, die vielleicht alle Bürger tolerieren könnten.
Für das Prinzip politischen bürgerschaftlichen Engagements, das selbstverständlich auch konstruktiv kritisch sein muss, ist der Umkehrschluss, ein vermeintliches Sankt-Florian-Prinzip als Killerformel gegen persönliche Betroffenheit ins Feld zu führen, allerdings kontraproduktiv. Einerseits ist Bürgerbeteiligung heutzutage gewünscht, andererseits soll sie sich nicht von einer so genannten "Gemeinwohl-Konvention" abkehren. Die Analyse zeigt das Absurde dieser Position.
Eine repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Emnid aus dem Jahr 2012 kommt zu dem Ergebnis, dass sich zu „Infrastrukturprojekten wie neuen Straßen, Kraftwerken oder Stromtrassen (...) 89 Prozent der Bürger mehr Mitsprachemöglichkeiten“ wünschen und jeder zweite Befragte bereit sei, "Möglichkeiten zur Bürgerbeteiligung während des Planungsprozesses aktiv zu nutzen und sich in seiner Freizeit zu engagieren. Insbesondere gilt das für die eigene Region, zu deren Großvorhaben sich 90 Prozent der Bürger mehr Informationen wünschen (...).“ (Quelle: Bertelsmann-Stiftung). Es wäre weder dienlich noch schicklich, diese zu bürgerschaftlichem Engagement bereitwilligen Einwohner in Gemeinwohl-Konformisten und -Nonkonformisten zu unterteilen; genau das geschieht jedoch durch die Spaltaxt, die Kritikern kein ethisch positiveres Ansinnen zugestehen möchte als egoistisches Sankt-Florian-Denken.
Was „Gemeinwohl“ überhaupt bedeutet, muss ohnehin von Fall zu Fall erst einmal partizipatorisch hinterfragt und im fairen bürgerschaftlichen Austausch ausgehandelt werden. Jedenfalls dann, wenn man es ernst meint mit dem schönen Wort „Bürgerbeteiligung“. Meist gibt es nicht das Gemeinwohl, sondern einige unterschiedliche Interessen, für die man im besten Fall einen Konsens finden kann. In heutiger Zeit sollte das Wohl eines Gemeinwesens als interaktive und kooperative Bestimmungsleistung von Bürgern und Entscheidungsträgern verstanden werden, die sich souverän und professionell begleitet um einen fairen Interessenausgleich bemühen.
Wenn es um politische Partizipation geht, klafft natürlich immer eine Kluft zwischen Vision und Wirklichkeit. Die Moderation und Lösung von bürgerschaftlichen Zielkonflikten ist stets aufwändig und kann sicherlich auch nicht in jedem Fall erfolgreich sein. Dennoch ist der Weg das Ziel; man sollte es versuchen. Wer den Pfad der Bürgerbeteiligung entschlossen und aufrichtig gehen will, muss sich vom Schlagwort „Sankt-Florian-Prinzip“ als subtil angewandte oder unüberlegte Killerformel verabschieden und darf die Bürgerschaft nicht in zwei Lager spalten.
Im Übrigen kann man sich nicht allein im kommunalen und regionalen Kontext mit der Gemeinwohl-Frage auseinandersetzen, sondern muss dies konsequenterweise auch vor dem Hintergrund der weltweiten Vernetzung leisten. Die internationale Sankt-Florian-Politik ist nach wie vor ein vielfach unterschätztes und alltäglich verdrängtes Problem, denn die Tatsache, dass die reichen Staaten ihre wirtschaftliche Entwicklung auf Kosten armer Länder sichern (Beispiel: Ernährung) und manches nationale Problem ins Ausland "exportieren" (Beispiel: Uranhexafluorid in Russland endgelagert), zeigt, dass Gemeinwohl hierzuland gerne eurozentrisch ausgelegt wird und nicht etwa im Sinne einer Weltgemeinschaft.
Genau so wird das vermeintliche Wohl des Gemeinwesens auch im regionalen und kommunalen Kontext allzuoft voreilig auf eine Weise interpretiert, die einem Teil der Bevölkerung ethischen Auftrieb für die eigenen Interessen oder für einen unkomplizierten Verlauf von Umsetzungsmaßnahmen geben soll, indem das Anliegen eines anderen, meist kleineren Teils der betroffenen Bürgerschaft entwertet wird. Global denken, lokal handeln: Schon der Dreck, den wir in internationalen Verteilungsfragen alle am Ärmel haben, ermahnt uns alltäglich zu mehr Fingerspitzengefühl - auch in heimischen Gemeinwohlfragen.
Autor: Michael Hahl, Januar 2013