Streifzug durch den „Hohen Odenwald“
von Michael Hahl
Über die Neuerfindung einer alten Landschaft
„Landschaft ist der „Rahmen“, in dem sich Gesellschaft in den Raum zeichnet.“
Angelus Eisinger
Ausblick und Orientierung
Über den weiten Bergrücken des Hohen Odenwaldes scheint die Sonne. An diesem herrlichen Tag ist nichts davon zu spüren, dass diese Gegend traditionell den Namen „Winterhauch“ trägt. Ein herrlicher Tag, um die Landschaft zu Fuß zu durchstreifen – wie zum Wandern, Schauen und Entdecken gemacht! Mein Blick fällt auf den weithin sichtbaren Katzenbuckel, der mit seinen 626 Meter ü. NN den Buntsandstein-Odenwald überragt. Die Hochfläche, auf der ich gehe, liegt auf rund 500 m ü. NN. Wo die Bergrücken weiträumig gerodet und mit einzelnen Dörfern besiedelt sind, hat man leicht den Eindruck, man befände sich gar nicht in einem Mittelgebirge. Doch das Bild täuscht. Wer an einen der steilen Hänge der tief eingeschnittenen Täler gelangt, wird bald eines Besseren belehrt: Vom Katzenbuckel aus geht es in nur zwei Kilometer Luftlinie schnell auf 200 m ü. NN; und wer dort einmal bergauf wandert, der weiß, was ein Gebirge ist. „Hoher Odenwald“ – der Name ist gebräuchlich und wirft doch Rätsel auf: Welcher Teilraum des Odenwaldes ist denn hier gemeint?
Im Handbuch der naturräumlichen Gliederung Deutschlands, das seit den 1950er Jahren als Grundlage für Landschaftsplanungen herangezogen wird, ist die Bezeichnung „Hoher Odenwald“ nicht vertreten. Dort finden wir die Teilräume des Naturparks in den Kategorien „Südlicher zertalter Sandsteinodenwald (Neckarseitentäler)“, „östlicher zertalter Sandsteinodenwald“ (Mainseitentäler)“, „Kristalliner Odenwald“, „Bergstraße“ und „Odenwald-Neckartal“. An den Übergängen zum Muschelkalk werden zudem die naturräumlichen Einheiten „Bauland“ und „Kraichgau“ berührt. Andere Begrifflichkeiten stammen entweder aus dem Volksmund (z.B. „Kleiner Odenwald“), aus der Geschichte (z.B. „Wintterruch“ im 15. Jahrhundert, jeute "Winterhauch") oder – und damit sind wir bei der Namenserklärung für den „Hohen Odenwald“ angekommen – vor allem aus dem Tourismusmarketing.
Produktion einer Landschaft?
Landschaften sträuben sich heute mehr denn je gegen eine eindeutige Zuordnung. Schon im 19. Jahrhundert wurde klar, dass man sie aus vielen Perspektiven betrachten muss und unter naturwissenschaftlichen, kulturgeschichtlichen oder künstlerischen Aspekten beschreiben und untergliedern kann. Im Gegenwartsfokus der Postmoderne gehen althergebrachte Kategorien verloren. So muss etwa die Definition einer „ländlichen Region“ aufgrund der überall gleicherma0en verfügbaren Massenmedien und der Mobilität ihrer Bewohner zunehmend relativiert werden, während neue Siedlungsstrukturen in den urbanen Räumen die Stadt-Land-Grenze auf der anderen Seite aufweichen.
Um Landschaften zu beschreiben und voneinander abzugrenzen, reichen Modelle wie die naturräumliche Gliederung nicht aus. Landschaft ist eine dynamische Kategorie geworden, die durch das Wechselspiel mit ihren Akteuren und deren Interessen immer wieder neu produziert wird. Auch der „Hohe Odenwald“ ist genau genommen eine Neuerfindung der Landschaft, eine relativ junge Kategorisierung mit unklarer Definition. Welcher Landstrich damit genau gemeint ist, bleibt weitgehend den Interpretationen des touristischen Destinationsmanagements überlassen, das sich nicht allzu sehr um eine exakte geographische Zuordnung zu kümmern braucht.
Die Bezeichnung „Hoher Odenwald“ scheint in den letzten Jahren von der Hochfläche um den Katzenbuckel ausgehend mehr und mehr zum markentauglichen Synonym ungefähr für den Bereich der Gemeinden Waldbrunn, Mudau, Limbach, Fahrenbach und Elztal zu werden, verstärkt durch deren Geopark-Zuteilung in den so genannten „Erlebnisbereich Hoher Odenwald“. Sollte sich der Name zukünftig weiter etablieren, können wir bald beobachten, wie sich die Vorstellungen der Menschen im Selbstverständnis eines Landstrichs niederschlagen – oder anders ausgedrückt: wie eine Landschaft neu erfunden wird.
Im Rahmen der naturräumlichen Gliederung wäre mit dem „Hohen Odenwald“ das Gebiet des südöstlichen Sandsteinodenwaldes mit den Seitentälern von Neckar und Main erfasst. Spätestens im Tal der Elz wird die touristische Kategorie allerdings streitbar, denn hier fällt der gar nicht mehr so hohe Odenwald bereits auf unter 300 m ü. NN ab und mit den Ortsteilen Neckarburken und Dallau befinden wir uns am Übergang zum Muschelkalk und damit bereits auf dem Weg ins Bauland. Die geographische Ungenauigkeit einer „mentalen Landschaft“, die ihre Wurzeln im Marketing hat, ist offenkundig. Fraglos ist allerdings auch, dass der Name „Hoher Odenwald“ weitaus besser von der Zunge geht als „südöstlicher zertalter Sandsteinodenwald“.
Berg und Tal im Wechselspiel der Flussgeschichte
Als ich durch die Scheuerklinge in den Oberhöllgrund hinunter steige, verweile ich am Landgasthaus Zur Mühle, einem der „Naturpark-Wirte“, die mit ihren regionaltypischen Gerichten aus hofeigenen Produkten kulinarische Naturerlebnisse schaffen und die Kulturlandschaft im Naturpark Neckartal-Odenwald „mit Messer und Gabel“ pflegen. Nahe der Mühle beschaue ich mir den „Hohen Odenwald“ von meinem tief gelegenen Standpunkt auf gerade mal 270 m ü. NN. Im Süden steigt der Hang des Katzenbergs, im Norden der Geiersberg an. Irgendwo dort oben wurde auf über 500 m das Jagdschloss Max-Wilhelmshöhe aus den Sandsteinen des verschwundenen Oberferdinandsdorfes errichtet.
Im „hellen Grund“ kann man die Spuren historischer Wirtschaftsweise gut erkennen, und auch diese charakterisieren das Nebeneinander von Bergrücken und Bachtälern: Das Mühlrad dreht sich noch heute und zeugt – wie ein Taktschlag aus anderer Zeit – von den einst zahlreichen Getreidemühlen, die für die Versorgung der Bauern, welche auf den Hochflächen ihre Äcker bestellten, zuständig waren. Am Höllbach entdeckt man zudem die Relikte der Wiesenwässerung: mit Sandstein gefasste Kanäle, Kandel genannt, die einst das Wasser aus Bachlauf und Quellen über die Hangwiesen leiteten, um die Vegetationsperiode zu verlängern.
Auch die tief eingeschnittenen Bachtäler prägen den landschaftlichen Charakter des Hohen Odenwaldes. Damit wird klar, dass sich die naturräumlichen Einheiten ineinander verzahnen, denn die Kerbtäler und die fast schluchtartigen Klingen des südöstlichen Sandsteinodenwaldes sind nur im Kontext des Neckartals oder – wie am Mudauer Ünglert – des Maintals zu verstehen. Als vor über 30 Millionen Jahren der Höhenversatz zwischen dem nördlichen Oberrheingraben und dem Odenwald begann, bildeten sich erstmals westwärts gerichtete Fließgewässer. Vor allem in den letzten fünf Millionen Jahren konnten sich Neckar und Main immer weiter ins Gebirge einsägen. Noch heute beträgt der vertikale Versatz zwischen Odenwald und Rheingraben nahezu 0,3 mm im Jahr. Mit den großen Flüssen haben sich auch die Nebengewässer in den Sandstein gefressen: die Itter, die Mud, die Elz und schließlich die kleineren Bachläufe wie der Höllbach. Die steilen Klingen markieren die Übergänge von der Hochfläche zu den Bachtälern. Gewaltige Höhenunterschiede entstanden und der Odenwald erhielt sein Gesicht.
Explosiv! Vulkanrelikt Katzenbuckel
Von der nördlich des Höllgrunds gelegenen Hochfläche sehe ich noch einmal den Katzenbuckel – ein erhebender Ausblick. Im geistigen Auge des Geologen beginnt sogleich eine Art Animationsfilm, welche die Entstehung des Vulkans bildhaft rekonstruiert. Vor rund 65 Millionen Jahren hatte es hier kräftig „geknallt“. Der explosive Vulkanausbruch wurde vermutlich durch Magma-Grundwasser-Kontakt ausgelöst, der zu einer Wasserdampfexplosion führte. In den hierdurch ausgeschossenen Explosionstrichter ergossen sich glutflüssige magmatische Schmelzen und erstarrten.
Verwitterung und Erosion nagten Millimeter für Millimeter an der Landoberfläche und trugen die Sedimentgesteine des Jura, des Keuper und des Muschelkalk ab, bis schließlich – aus der Gegenwartsperspektive betrachtet – der obere Buntsandstein freigelegt war. Dort aber, wo das harte magmatische Gestein im Explosionstrichter steckte, traf die Erosion auf größeren Widerstand und modellierte aus dem verfüllten Trichter einen Berg: den Katzenbuckel. Andere vulkanische Vorkommen, die teils weitaus schlechter erhalten blieben – und vereinzelt nur zufällig durch Baugrunduntersuchungen gefunden wurden, wie der kleine Tuffschlot in der Waldbrunner Eisigklinge – machen deutlich, dass der Odenwald eine feurige Vergangenheit hat.
Kultur malt sich in die Landschaft
Mein Weg führt vorbei am Felsenhaus, wo sich nach 1800 der Räuber Hölzerlips mit seiner Winterhauchbande versteckt haben soll, bis zum verschwundenen Unterferdinandsdorf, das um 1850 aufgegeben wurde. Altes Mauerwerk zeugt noch heute von dem gravierenden Elend der Odenwälder Bevölkerung im frühen 19. Jahrhundert. Siedlungsaufgaben, so genannte Wüstungen, waren nur der Gipfel des Eisbergs einer verarmenden Gesellschaft, der schließlich zu einer Massenauswanderung nach Amerika führte. Das Leben war hart auf dem Winterhauch!
Heute sind die Spuren dieser schlimmen Zeit in den Archiven dokumentiert – und manchmal auch noch im Gelände, dort, wo sich der Wald längst wieder alte Siedlungsflächen zurückgeholt und als Zeugnis der Armut nur Mauerreste übrig gelassen hat. Neben Ferdinandsdorf erinnert man sich im südöstlichen Odenwald auch an das verschwundene Dorf Rineck, das einstmals auf einem Bergrücken der heute zu Elztal gehörenden Höhenzüge lag. Im Reisenbacher Grund erreiche ich Mudauer Gemarkung und steige wieder auf 500 m ü. NN bis zum Römerkastell bei Oberscheidenthal, wo ich an der Porta Principalis Dextra darüber nachsinne, dass sich in unseren Landschaften nicht nur die heutige Zeit, sondern auch die Vergangenheit in den Raum hinein zeichnet. Ganz ähnlich, wie sich Flüsse und Bachläufe in den Sandstein des Gebirges schneiden, hinterlässt jede Kultur tiefe Eindrücke, die aus den Vorstellungen ihrer Zeit hervorströmen.
Die Römer am Neckar-Odenwald-Limes, die germanischen Gesellschaftsformen, die im Hohen Odenwald schließlich zur hochmittelalterlichen Siedlungsperiode führten, die Entwicklungen der Neuzeit – alles prägte den Landstrich auf seine Weise. Auf dem Weg nach Mudau zeugen die nun häufiger sichtbaren Steinkreuze und Bildstöcke – ich erinnere mich auch an den wunderbaren Dreisteg auf Limbacher Gemarkung – von der Bedeutung der Pilgerwege und Wallfahrten. Der Odenwald ist nicht zuletzt eine Sakrallandschaft. Beim Wandern wird klar, wie sich Vorstellungen der Menschen – damals wie heute – im Odenwald verewigen. Die Landschaft hat viel zu erzählen. Und nicht nicht selten ist der schnellste Weg, sie zu entdecken, der langsamste: zu Fuß.
Artikel erstmals veröffentlicht im Jahresheft des Natzrparks Neckartal-Odenwald 2011 (c) M. Hahl 2011